DasErste: Rückschau: Russland. Gefängnisreform in Russland — ein langer Weg.
March 15, 2010
Dieser Fall sorgt in den russischen Medien für großen Wirbel: Der 37-jährige Anwalt Sergej Magnitskij stirbt Ende 2009 in der Moskauer Untersuchungshaft. Sie verhafteten ihn wegen Steuerhinterziehung, doch Magnitskij untersuchte millionenschwere Korruption im Beamtenapparat. Vermutlich wollte man ihn zu Aussagen bringen. Sergej Magnitskij starb an Herzversagen, heißt es.
Doch nicht nur seine Mutter ist sich sicher, dass ihn die Haftbedingungen umgebracht haben. Sie kann es immer noch nicht fassen, dass ihr Sohn ein Jahr lang unter erbärmlichen Bedingungen in U‑Haft sitzen musste. Ein Jahr ohne Prozessbeginn! “Die Zustände in der Haftanstalt Butyrka sind wirklich schrecklich. Ich meine, er war ja noch nicht mal verurteilt, er saß doch nur in Untersuchungshaft. Ich durfte ihn nur einmal besuchen in fast einem Jahr.”
Butyrka ist eins der gefürchtetsten Gefängnisse Russlands. Es liegt mitten im Stadtzentrum Moskaus und ist mehr als 200 Jahre alt.
Wir begleiten den Menschenrechtler Valerij Barschow. Seit dem Tod des Juristen kommt er hier regelmäßig vorbei. Unser Kamerateam darf auch rein, es ist das erste Mal seit Jahrzehnten. Russland versprach Haftreformen. Das will man zeigen. Der Zellentrakt, im dem auch Magnitskij saß, wurde geschlossen und soll umgebaut werden.
Alles soll renoviert werden
Remont-Zettel kleben an den Zellentüren. Alles soll renoviert werden. Längst überfällige Reformen. Vieles wird sich ändern, verspricht der gerade ins Amt gekommene neue Direktor. Der Ehemalige wurde nach dem Tod des jungen Anwaltes gefeuert. Plötzlich ist sogar Geld da.
Das Kerngebäude von Butyrka. Das Gefängnis ist für 1.200 Häftlinge ausgelegt. Das Schild im Gang preist den Wert der Freiheit, die erst im Gefängnis offenbar wird.
Der Menschenrechtler darf noch in eine der besseren Zellen, die möchte man uns auch zeigen.
Viele sitzen hier wegen Wirtschaftsverbrechen ein. Alexej wartet schon seit zweieinhalb Jahren auf seinen Prozess. Wir dürfen die Untersuchungshäftlinge nicht befragen.
Diese Zelle ist in gutem Zustand, meint der Menschenrechtler. Sie können sich ein paar Lebensmittel beiseite legen, es ist vergleichsweise sauber und die Häftlinge haben sogar einen Fernseher: “Diese Zelle entspricht schon den internationalen Normen. Es müssen vier Quadratmeter Platz pro Person auf sein für die Gefangenen. Hier gibt es einen Kühlschrank, einen Fernseher und sogar eine Trennwand zum Klo. Sowas gibt es leider noch nicht in jeder Zelle hier.”
Die Krankenabteilung von Butyrka, Hier lagern die Karteikarten von zigtausenden Inhaftierten. Die medizinische Abteilung des Gefängnisses geriet besonders in Verruf. Als Sergej Magnitsky an schweren Entzündungen litt, wurde er hier angeblich viel zu spät und falsch behandelt.
Auch hier gab es Entlassungen. Der leitende Arzt von Butyrka musste gehen. Einen Nachfolger gibt es nicht, weil die Bezahlung zu schlecht ist.
Termin beim Radio. Der Tod des Anwaltes wird zum Skandal. Der Präsident verspricht schon lange Reformen und nun das. Der russische Justizminister Alexander Konowalow muss ran: Wirtschaftskriminelle und Steuersünder sollen zukünftig nicht immer in Haft müssen bis zur Verhandlung und die Zustände sollen sich allgemein verbessern: “Der Tod des Anwaltes Magnitsky ist eine Tragödie. Und leider muss ich sagen, dass war keine große Überraschung für mich, weil das ganze Haftsystem schon lange krank ist.”
Straf- und Arbeitslager auf dem Land
Und so stellt sich Russland die Zukunft für Ersttäter und Leichtkriminelle vor. Sie sollen in solche Kolonien wie hier in einem Dorf bei Woronesch. Das Prinzip reicht zurück bis in Stalins Zeiten: Straf- und Arbeitslager auf dem Land. Doch hier soll es ziviler zugehen für die Häftlinge. Ein kleiner Betrieb ist entstanden.
Im Moment läuft gerade die Produktion von Tomatenmark-Dosen. In dieser Kolonie arbeiten männliche und weibliche Häftlinge zusammen. Sie bekommen monatlich etwas Geld für ihre Arbeit.
Privatsphäre gibt es hier keine. Sie sitzen zum Beispiel wegen Drogen oder Raub ein. Haftdauer zwischen einigen Monaten bis zu vier Jahren.
Viele Frauen arbeiten in der Kolonie eigenen Näherei. Gerade schneidern sie an Kleidung für andere Strafkolonien. Der Direktor Alexander Barischnikow prüft die Ware persönlich. Er ist stolz auf seine Kolonie: “Milch, Gemüse, eigenes Brot. Wir produzieren alles selbst. Ich glaube, die Menschen können hier bei uns über einiges nachdenken, wie sie später ihr Leben gestalten wollen.”
Elektronische Fußfesseln ermöglichen Hausarrest
In Woronesch kamen sie zum ersten Mal zum Einsatz: Elektronische Fußfesseln. Das Experiment wurde von der europäischen Union unterstützt. Mit der Fessel kann immer und überall überprüft werden, wo sich der Häftling befindet. 60 Insassen haben an dem Experiment teilgenommen.
Mit dieser Technik wäre auch Hausarrest eine mögliche Strafform.
Russland hat noch einen weiten Weg vor sich, bis seine Haftbedingungen westlichen Standards entsprechen. Und es muss endlich verhindern, dass Menschen wie Sergej Magnitskij hinter Gittern zu Grunde gehen.
Autor: Olaf Bock, ARD-Studio Moskau
http://www.daserste.de/weltspiegel/beitrag_dyn~uid,3hmu1q1birupf8yw~cm.asp
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